Gottesdienst im Nachbarschaftsraum
Foto: Wetterauer Zeitung
09.02.2023

Gottesdienst im Nachbarschaftsraum

Lesen Sie hierzu die Wetterauer Zeitung vom 09.02.2023

Grundlagentext von Thomas Lummitsch für den gehaltenen Vortrag:

Jüdisches Bönstadt

Paradigmenorientierte Hintergrundinformationen zu einem geplanten Vortrag von Thomas Lummitsch über jüdisches Leben in Bönstadt (29.01. 2023/ev. Kirche Bönstadt)

1. Ursprünge jüdischen Lebens in Bönstadt

Eine frühe Überlieferung jüdischen Lebens in Bönstadt steht in Verbindung mit dem „Assenheimer Progrom von 1567“(Vgl. Battenberg, Friedrich: -Assenheimer Judenprogrome vor dem Reichskammergericht. Die Prozesse der Grafschaften Hanau, Isenburg und Solms um die Ausübung des Judenregals 1567-1573 in: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen Wiesbaden 1983, Redaktion Christiane Heinemann s. 123-149, hier S. 131f.f.; Lummitsch, Rudolf: Geschichte der Stadt Assenheim Von der frühen Zeit bis zum 19. Jahrhundert Niddatal 1977 S. 302). In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verfügte das mehrherrschaftliche Städtchen über eine jüdische Gemeinschaft von 7 jüdischen Haushalten, die etwa 40 bis 50 Personen umfasste. Diese jüdischen Assenheimer betrieben neben Darlehensgeschäften Handel mit Luxusgütern, wie Glas und Wein. Bei diesen Ausschreitungen ging es letztendlich um das Besteuerungsrecht an der Judengemeinde, das ursprünglich alleine bei der Grafschaft Hanau-Münzenberg(Philipp Ludwig I. 1553-1580, damals unter Vormundschaft) lag, die aber nur über 5/12 der Stadtherrschaft verfügte. Die Grafen zu Isenburg-Birstein(Philipp 1533-1596)und Solms-Laubach(Johann Georg I. 1547-1600) verfügten seinerzeit je über 5/12 und stellten dementsprechende Ansprüche bezüglich des „Judenregals“. Nach inszenierten Ausschreitungen seitens der Iseburger Dörfer Bönstadt und Bruchenbrücken, sowie des solmsischen Ossenheim flohen die verfolgten Juden in die nähere Umgebung, bis sich erst 1670 eine neue jüdische Gemeinde in Assenheim bildete(Battenberg a. a. O. S. 130-131). Von vier überlieferten Haushaltsvorständen, die zu den Vertriebenen von 1567 zählten, ließen sich bezeichnenderweise zwei wieder in isenburgischem und solmsischen Herrschaftsbereich nieder. Die Familie des Geußen siedelt bei einem solmsischen Lehensmann(Weise v. Fauerbach) in Fauerbach. Dagegen fand die Familie des Gantof als Schutzjuden Aufnahme im isenburgischen Bönstadt. Damit ist nach aktuellem Stand der Forschung der ursprünglich assenheimer Jude Gatof mit seiner Familie der erstgenannte jüdische Bönstädter.Bislang setzen weitere Überlieferungen jüdischen Lebens in Bönstadt erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Im Jahr 1823 werden die Juden des Großherzogtums Hessen zuerst immer noch unter dem Status „Schutzjude“ in die kommunale Verwaltung integriert. Bis dahin unterstanden sie immer noch den mittlerweile(ab 1806/1815*/zeitw.“Fürstentum Isenburg“ als sog. Rheinbundzwerg/) mediatisierten Standesherren, für Bönstadt dem gräflichen Hause Isenburg-Wächtesbach(Vgl. Hartherz, Wilhelm: Die Geschichte der Juden in Bönstadt in: Moldenhauer, Dr. Rüdiger: Heimatbuch der Gemeinde Bönstadt, Rosbach / Wetteraukreis 1973 S. 94-96). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Grafen von Isenburg-Wächtersbach(Speziallinie seit 1687), bzw. die Verwandten dieses Samthauses mindestens seit Mitte des 17. Jahrhunderts als Landesherren „Schutzjuden“ aufgenommen haben . Lebten vor dem 30-Jährigen Kriege (1603) im Bereich des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ ca. 8 000 bis 10 000 Juden (Vgl. Herzig, Arno: Jüdische Geschichte in Deutschland – Von den Anfänge bis zur Gegenwart Verlag C.H. Beck o H G München 1997/ Bonn 2006 Lizenzausgabe für die Bildungszentrale für politische Bildung ISBN 3 – 89331 – 4 S.97), so erfolgte nach 1648-1657 ein erheblicher Zuzug askenasischer Juden aus dem Gebiet der heutigen Ukraine. Dort fielen zehntausende Polen und Juden den Massakern des Kosakenführers Chmelnyzky zum Opfer. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wuchs hierdurch die Zahl der jüdischen Bewohner in Deutschland auf ca. 60 000 an(Vgl. Herzig a.a.O. S.127). Für den Beginn des 18. Jahrhunderts ist eine Ausweitung jüdischer Ansiedlung im ländliche Bereich zwischen Wetterau und Vogelsberg von Niederursel bis Einhardshausen belegt(Vgl. Arnsberg, Paul: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang-Untergang-Neubeginn, Frankfurt 1971 ISBN 379 730 2130 Bd.2 S.283). Zudem besaßen die zahlreichen Reichsgrafschaften dieser Region, wie die Isenburger oder Solmser, keine Judenordnungen. Diese, wie im Falle der Reichsstadt Frankfurt mit ihrer großen Judengemeinde, wirkten auf das jüdische Gemeindeleben extrem einengend und diskriminierend. Diese offenkundigen Begleitumstände lassen daher auch für Bönstadt für ein jüdisches Gemeindeleben, spätestens seit dem 18. Jahrhundert schließen. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass in der ausgedruckten „Statistisch = topograpisch = historische Beschreibung des Großherzogtums Hessen“ von 1830 jüdisches Leben für Bönstadt auf dem bezeugt. Von den damals 547 Bönstädtern waren 37 jüdischen Glaubens., was statistisch 6,76% der Ortsbevölkerung entsprach Dagegen umfasste die katholische Minderheit lediglich 9 Einwohner neben den übrigen 489 Protestanten(Vgl. Wagner, Georg Wilhelm Justin: Statischtisch=topographisch=historische Beschreibung des Großherzogtums Hessen – Dritter Band – Provinz Oberhessen Darmstadt 1830 S.33; www.alemannia-judaica.de/boenstadt_synagoge.htm Copyright c Alemannia Judaica – Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum Stand: 06. Mai 2016). Mit dem Jahre 1823 wandte sich die Regierung des Großherzogtums Hessen verstärkt ihren jüdischen Einwohnern zu. Mit dem Einbezug jüdischer Kinder in die allgemeine Schulpflicht wurde ein sehr wichtiger Schritt zu Integration und kultureller Teilhabe vollzogen. Daneben ging das bisherige „Judenregal“ von den Standesherren, hier Isenburg-Wächtersbach(1805 mediatisierte Reichsgrafen u. Fürsten, denen ursprüngl. noch zahlreiche Hoheitsrechte zustanden. Diese reduzierten sich bis 1918 letztendlich auf Privilegien wie z.B. Erbrecht, Befreiung v.d. Wehrpflicht u. Präsentationsrechte im schulischen u. kirchl. Bereich)auf die großherzogliche Staatsverwaltung über. Damit wurden die Juden des Großherzogtums von den örtlichen Standesämtern (Gemeindeverwaltungen) verwaltungstechnisch erfasst, obgleich anfangs noch immer unter dem Status von „Schutzjuden“(geduldeten Juden).

2. Die Gemeindeentwicklung

Mit Sara Müller tritt am 20. Januar 1825 die erste gebürtige Bönstädterin ins Licht archivalisch überlieferter Geschichte(Vgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden/HHStW. 365 Nr.904/56) Ihre Eltern waren Löb Müller und dessen Ehefrau Geidel, geb. Hatz, die in Bönstadt das Haus Nr.7(Die Nummerierung nach Straßennamen kam in Bönstadt erst um 1940 auf(Vgl. Angabe von Herrn Wilhelm Schreitz vom 16. Januar 2023).

Die zahlenmäßige Entwicklung der jüdischen Gemeinde Bönstadt ist seit 1828 nach Einwohnerzahl überliefert, darunter die Gesamteinwohnerschaft:

1828:37 Ew.1861: 51 Ew.1880: 48 Ew. 1905:28* Ew. 1910: 21 Ew. 1924: 16 Ew.1933 9 Ew.1939: 7 Ew.

1828: 547 Ew. 1858: 740 Ew. 1871: 596 Ew. 1910: 670 Ew. 1925: 687 Ew.1933 736 Ew. 1939: 746 Ew. (Anm.: Zur jüdischen Gemeinde Hessische Gemeindestatistik: primär alemannia-judaica.de/boenstadt-synagoge a.a.O.; für 1905*: Lummitsch, Thomas Jüdisches Leben in Gedern Hrsg. Magistrat der Stadt Gedern Schotten August 1991, s.116; für 1933: Hessisches Landesstatistische Amt (Hrsg.) Darmstadt 1935 (Stand der Volks-, Berufs- u. Betriebszählung von 1933) S.164. Zur Einwohnerzahl allgemein: Historisches Gemeindeverzeichnis für Hessen Heft 1 Die Bevölkerung der Gemeinden 1834 bis 1967 Hessisches Statistisches Landesamt 1968 S.28-29). Die obigen Zahlenwerte zeigen für die jüdische Gemeinde eine Wachstumsphase von 1828 bis 1861 eine deutliche Steigerung, die der Steigerung der Gesamteinwohnerschaft im annähernd gleichen Zeitraum proportional grob vergleichbar erscheint. Nach 1858 erfolgt für die Gemeinde Bönstadt ein deutlicher Bevölkerungseinbruch der 1871 mit einem Rückgang von rund 140 Einwohnern, trotz allgemein hoher Geburtenrate, schon als Landflucht zu bezeichnen ist. Diese Verluste werden erst durch eine langsame Steigerung im Jahre 1939, also erst in 81 Jahren ausgeglichen. Diese Entwicklung verläuft im Nachbarort Kaichen ähnlich und tritt ebenso im Bereich des Altkreises Büdingen auf.

Die demographischen Werte der jüdischen Kultusgemeinde Bönstadt zeigen zunächst ein anderes Bild sind aber mit der jüdischen Bevölkerungsentwicklung in Deutschland vergleichbar und fast identisch mit der des Oberhessischen Landjudentums. Zwischen 1861 und 1880 bleibt die Zahl der jüdischen Bönstädter in etwa stabil, um im Zeitraum von 1880 bis 1910, in 30 Jahren, allmählich um mehr als die Hälfte zu schrumpfen. Der Wert von 1905 ist einer Erhebung der innerjüdischen Wohlfahrtspflege entnommen. Dabei gehört Bönstadt aus Sicht dieser Studie mit ihren 28 Mitgliedern schon in die Kategorie der jüdischen Gemeinden, deren Auflösung zu erwarten ist. Diese erfolgte schließlich 1918(Vgl. Thomas Lummitsch a.a.O. S.117), wobei die Verfolgungen durch die Nationalsozialisten und schließlich die Shoa die allerletzten jüdischen Bönstädter vertrieb und insgesamt 20* Ermordete zu beklagen sind(Vgl. Listen von Yad Vashem, Jerusalem und Gedekbuch: Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945 in: alemannia-judaica.de/boenstadt- synagoge a.a.O. Anm.: Die meisten dieser Opfer hatten ihren späteren lebensschwerpunkt außerhalb Bönstadts, als sie der Verfolgung zum Opfer fielen).

Bönstadt, Heimat einer Gemeinde des Oberhessischen Landjudentums

Der Religionslehrer

Den religiös- kulturellen Mittelpunkt einer intakten Landgemeinde stellte der örtliche Religionslehrer dar. Wie aus einem Stellenangebot einer Anzeige der Zeitschrift “Der Israelit“ vom 11. Februar 1892 seitens der Kultusgemeinde Bönstadt hervorgeht, war am Ort die Religionslehrerstelle zum 1. Mai genannten Jahres zu besetzen(Vgl. alemannia-judaica.de boenstadt_ synagoge a.a.O.) Diese Ausschreibung beinhaltet als Tätigkeitsprofil eine „…Kantor- und Lehrerstelle…“(Ebenda) bei einem Jahresgehalt von 500 Mark, inklusiv freier Wohnung „…und Nebenverdienste…“(Ebenda). Damit wird die Rolle des dörflichen Religionslehrers umrissen. Neben dem Hebräisch-Unterricht in Wort und Schrift für die Bar-Mizwa, vergleichbar mit der evangelischen Konfirmation, fielen ihm weitere Aufgaben zu. Mit der Bezeichnung „Kantor“ wird der christlich geprägten Bezeichnung des „Chasan“ beschrieben. Dieses Rollenbild beinhaltete sowohl die Funktion als Vorsänger als auch die des Vorbeters. In der jüdischen Liturgie treten im Liedgut häufige Wechsel von Dur auf Moll ein. Dazu kam noch das Rezitieren nach bestimmten „Nigguns“(Hebr.„naggan“ etwa wie musizieren), die auch in der Wetterau von Ort zu Ort traditionell variieren konnten(Vgl. Buxbaum, Henry: Scherben der Erinnerung Memoarien des Wetterauer Juden Henry Buxbaum bearbeitet von Hans Helmut Hoos Verlag Bindernagelsche Buchhandlung Friedberg Hessen 1994 ISBN 3-87076-078-8, S.90; Anm.: Henry Buxbaum, 1900 geboren, verlebte seine frühe Kindheit in Assenheim, bis die Familie 1908 nach Friedberg umsiedelte. Er war damit Zeitzeuge der Lebenswirklichkeit des ländlichen Judentums seiner Heimatregion. Enge Kontakte mit Verwandten aus Reichelsheim im Odenwald ergänzten diese Erfahrungen, die sich sicherlich in vielfacher Hinsicht mit den damaligen Verhältnissen des jüdischen Bönstadts vergleichen lassen.). Der dritte Tätigkeitsschwerpunkt in der bönstädter Annonce von 1892, die mit „…Nebenverdienste…“ umschrieben wird, beinhaltet auf jeden Fall das Amt des Schächters, bzw. des „Schochet“. Das rituelle Schächten beim örtlichen jüdischen „Rindsmetzger“, das auch für Schafe und Ziegen durchgeführt wurde, oblag einzig und alleine dem Schocheten. So wenig der jüdische Metzger selbst schächten durfte, so wenig durfte die jüdische Hausfrau ihre eigenen Hühner oder Gänse selbst schlachten, auch dies führte der Schochet, sprich Religionslehrer nach festgelegtem Ritus aus. Der Ort des Schächtens, sofern dies nicht in der örtlichen Metzgerei stattfand, befand sich immer bei der Synagoge, bzw. in Bönstadt nahe dem Bethaus in der Erbstädter Str. 20. (Vgl. Buxbaum a.a.O. S.87-90) Das Schächten stellte „…üblicherweise die wichtigste Einnahmequelle für das Einkommen eines Hebräisch-Lehrers…“dar(Siehe Buxbaum a.a.O. S. 87).

Das Sozialgefüge

In den oberhessischen Landgemeinden mit ihrer begrenzten Mitgliederzahl war es nicht leicht, die Synagoge, aber auch nur ein kleines Gebäude mit Betraum zu unterhalten. Hinzu fiel es nicht leicht, dazu auch noch einen eigenen Religionslehrer ganzjährig zu besolden. Dessen Jahresgehalt belief sich 1892 auf 500 Mark Jahresgehalt, bei einer Gemeindegröße im Jahre 1900 von 30 Mitgliedern(Vgl. alemannia-judaica.de/boenstadtsynagoge a.a.O.). Fast zeitgleich wird im der benachbarten Gemeinde Assenheim 1893 die dortige Religionslehrerstelle für jährlich 600 Mark ausgeschrieben, die im Jahre 1900 immerhin Personen 50 umfasste(Vgl. alemannia-judaica.de/assenheimsynagoge beim Stand von 2020). Offenkundig konnten diese Belastungen nicht gleichmäßig auf alle Haushaltungen umgelegt werden, sondern wurden größtenteils von den vermögenderen Gemeindemitgliedern getragen. Hernry Buxbaum schildert aus der Retrospektive seiner familiären Erfahrungen bezüglich der Zeit des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: „Einige an der Spitze von ihnen, hatten Geld, und so…besaßen nur die steuerzahlenden Mitglieder das Stimmrecht. Sie leiteten automatisch die Gemeinde und ihre religiösen Institutionen…von…heute betrachtet…kann man kaum verstehen…wie einseitig das System nur auf Geld aufgebaut war…Ein armer Jude fühlte sich von seinen reichen jüdischen Brüdern ebenso ausgeschlossen, wie…von den Nichtjuden…“(Siehe Buxbaum a.a.O. S.81/82). Er spricht offen von einer jüdischen Klassengesellschaft innerhalb der jüdischen Gemeinden. Er sieht zwar auch die gesellschaftlichen Klassenschranken innerhalb der damaligen Mehrheitsgesellschaft, hält dies aber in der jüdischen Gemeinschaft für noch gravierender (Ebenda).

Eine besonders soziale Erscheinung waren die „Schnorrer“, die jüdischen Bettler. Diese innerjüdische Randgruppe muss noch bis zur Wende vom 19. bis zum 20. Jahrhundert in der Wetterau und Vogelsbergregion aufgetreten sein. „Sie waren die Landstreicher der niedergelassenen jüdischen Gesellschaft… Wir(Familie Buxbaum in Assenheim)..hatten unseren üblichen –Familien-Schnorrer- …Der Grundsatz –Kol Jisrael Chawerim-, das bedeutet-Ganz Israel gehört zusammen… war eine Selbstverständlichkeit in praktisch jeder jüdischen Familie, die einem Fremden das Wilkommen garantierte.“(Siehe Buxbaum a.a.O. S. 93/94). Daher nahm solch ein „Schnorrer“ an der häuslichen Sabbatfeier teil, erhielt Speise und Obdach, erhielt Zuwendungen und kehrte phasenweise, wie selbstverständlich bei „seiner Familie“ein.

Familienleben, die Rolle von Frau und Mann

In der jüdischen Tradition und dem religiösen Gesetz dominierte absolut das männliche Geschlecht. Für die Familien standen die Söhne im Vordergrund. „Ein Junge war…alles, ein Mädchen nichts.“ (Siehe Buxbaum a.a.O. S.85). Bis zur Schwelle des 20. Jahrhunderts wurde jüdische Eheverbindungen von den Eltern arrangiert, wobei sich dieses Paradigma ab den Jahren vor dem I. Weltkrieg zu verlieren begann. Karl Vöhl aus Gedern erinnerte sich 1990 noch daran, dass die Ehe seiner Eltern, wie seinerzeit ganz selbstverständlich, auf diese Weise zustande gekommen ist. Dabei trat, wie in der Regel, ein Heiratsvermittler auf. Karl Vöhl spricht von einem Handlungsreisenden aus Frankfurt namens Sommerfeld, der um das Ende des 19. Jahrhunderts in Wetterau und Vogelsbergregion tätig gewesen ist. Diesen „Schadchan“ nennt Vöhl mundartlich abgewandelt „Schadchen“(Vgl. Lummitsch, Thomas a.a.O. S. 138). Die räumliche Zerstreuung im Landjudentum, eine wirklich sprichwörtliche Diaspora, stellte seinerzeit eine der Vorraussetzungen für die erwähnte Dienstleistung dar. Eingedenk der innerjüdischen Klassenunterschiede, rekurrieren die Ausführungen von Karl Vöhl doch recht hintergründig auf ein bestehendes soziales Gefälle. Er führt bezüglich des Heiratsvermittlers aus:„ Der wusste schon, welche Familien zueinanderpaßten.“(Ebenda). Da der materielle Aspekt bei einer Eheanbahnung erheblich dominierte, spielte die Mitgift, „Nedinje dowry“ eines Mädchens(Vgl. Buxbaum a.a.O. S.234 Anm. Nr.61) eine zentrale Rolle. Mädchen mit geringer oder gar fehlender Mitgift hatten kaum Chanchen auf einen Ehevertrag, den „Schidduch“ (Vgl. Buxbaum a.a.O. S.84). Andererseits konnten „…körperliche und andere(n) Unzulänglichkeiten eines Mädchens…kompensiert werden durch eine hinreichend große Mitgift…“(Siehe Buxbaum a.a.O. S.85). Der Humanmediziner Henry Buxbaum, nennt diesen Tatbestand, zu der, durch die Diasporasituation bedingte genetische Verarmung, z.B. auch bei den katholischen „Iselgemeinden“ in der Wetterau vor 1945 anzutreffen, die Ursache der „…vielen Erbfehler…innerhalb der süddeutschen jüdischen Gemeinden…“und spricht von „…vielen Meschuggenen oder Halbmeschuggenen…“gerade in den Landgemeinden(Siehe Buxbaum a.a.O. S. 85). Neben fehlender oder geringer Mitgift trat noch ein weiterer Grund zur Ehelosigkeit zahlreicher jüdischer Frauen hinzu, der Zwang, sich nur mit einem jüdischen Partner zu verheiraten. Bei einer Eheverbindung mit einem Nichtjuden bedeutete dies für eine junge Frau, auch noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, den völligen Bruch mit der Familie. Man erklärte sie förmlich für tot und hielt sieben Tage Trauer „Schiwa“ (Vgl. Buxbaum a.a.O. S. 86). Es wurde also von den nächsten Angehörigen das „Kaddisch“(Totengebet) für eine Lebende gesprochen. Letzteres mag auch in Bönstadt im Hintergrund der Ehelosigkeit von Adelheit Müller .geb. 1872 und Katinka Müller, geb. 1877, gestanden haben(Vgl. alemannia-judaica.de/boenstadt_synagoge a.a.O.), die mit ihrem jüngeren Bruder Adolf Müller, geb. 1877, in der Erbstädterstrasse Nr. 10 wohnten.

Die Endphase einer jüdischen Landgemeinde in Oberhessen

1905 hatte die jüdische Kultusgemeinde Bönstadt, zugehörig zum reformierten Provinzrabbinat Oberhessen, mit Sitz in Gießen, schon aus jüdischer Sicht mit 28 Mitgliedern keine Perspektiven für ihren Fortbestand. Symptomatisch hierfür ist die Auflösung der Kultusgemeinde im Jahre 1918. Das letzte schulpflichtige jüdische Kind wurde 1924 von Lehrer Markus aus Assenheim unterrichtet (Vgl. alemannia-judaica de./ boenstadt_synagoge).

Ohne sich auf eine Jahreszahl zu fixieren nennt Wilhelm Hartherz 18, von jüdischen Familien bewohnte Häuser in Bönstadt, die sich auf Assenheimer Straße, Erbstädter Straße, Kaicherecke, Weidenhaag und Hermannsecke verteilen(Vgl. Hartherz a.a.O. S.95). Nach Recherchen von Josef Hainl und Wilhelm Schreitz lassen sich folgende, von jüdischen Familien bewohnte Häuser in Bönstadt ermitteln:

Assenheimer Straße

Nr. 2 Metzgerei Müller (heute Anw. Schwarz 1966 neu errrichtet) Nr. 4 Nathan Müller (heute Erich Tschernich) Nr. 14 Josef Müller (heute Anw. Krüger 7 Jakobi)

Erbstädter Straße

Nr. 10 Adolf, Adelheid u. Katinka Müller: Kolonialwaren u. Textilien (heute Anw. Deckmann) Nr. 17 Ehem. Synagoge „Judenschule“ (heute Anw. Kraft)

Hermannseck (früher Judeneck)

Nr. 1 Müller Nr. 2 Berenz 1933 ausgewandert

Weidenhaag

Nr. 3 Ehem. Gemeindehaus

Kaichereck

Nr. 6 Levi Hofmann (heute Anw. Dörr) Nr. 8 Löwenthal (heute Anw. Dauth) Nr. 5 Ehem. Gemeindehaus (heute Anw. Strauch)

Das dörfliche Miteinander zwischen christlichen und jüdischen Bönstädtern beschreibt Wilhelm Schreitz als gut-nachbarschaftlich und vertrauensvoll. Ganz ähnlich schildert Henry Buxbaum seine Kindheitseindrücke um 1908. „In Assenheim kannte ich nur Freundschaft, Lächeln, Willkommen in der Schule, auf der Straße und in den Häusern unserer Nachbarn.“(Siehe Buxbaum a.a.O. S.126). Dabei unterscheidet er deutlich zwischen dem ländlichen Assenheim und dem Kreisstädtchen Friedberg, wo er durchaus antijüdischen Vorbehalten begegnete. Die Eltern von Wilhelm Schreitz pflegten mit den Inhabern des Nachbaranwesens, Erbstädter Straße Nr. 10, ein enges Nachbarschaftsverhältnis. Das Kolonialwaren- und Textilgeschäft von Adolf Adelheid und Katinka Müller wurde von der Dorfbevölkerung gut angenommen. Zudem besorgte Adolf Müller auf Wunsch auch auswärtige Produkte. Das Metzgerehepaar Max und Ella Müller aus der Assenheimer Straße Nr. 2 belieferte neben dem Ladengeschäft auch Kundschaft mit besonderen Bestellungen.

Der Geschichtsverein Niddatal wird sich im Laufe des Jahres 2023 um weitere Recherchen zum jüdisch-christlichen Zusammenleben in Bönstadt mittels Zeitzeugenaussagen und schriftlichen Überlieferungen bemühen.

Thomas W. Lummitsch / Nidatal-Assenheim, den 25. Januar 2023