Wetterau bei Bönstadt
Foto: Dr. Henning Hachmann
18.05.2025

Die Wetterau: 12.000 Jahre im Spannungsfeld von Klima, Mensch und Ökosystem

Die Wetterau, eine Tiefebene zwischen Taunus, Vogelsberg und Main mit fruchtbaren Lössböden, ist ein einzigartiges Archiv der holozänen bzw. anthropozänen Umweltgeschichte. Seit dem Rückzug der letzten Gletscher vor 11.700 Jahren formten hier klimatische Schwankungen und menschliche Innovationen eine Kulturlandschaft, die von urzeitlichen Auenwäldern bis zu modernen Raps- und Maisfeldern reicht.

Vom Eiszeitrefugium zur neolithischen Revolution

In der Jüngeren Dryas (12.900–11.500 v. Chr.) prägte eine karge Tundra das Landschaftsbild: Zwergbirken und Polarweiden dominierten, begleitet von Rentierherden und Wollhaarnashörnern. Pollenanalysen aus dem Wettertal zeigen, wie sich ab 9.500 v. Chr. Kiefern-Birken-Wälder ausbreiteten, die später von Hasel und Eichenmischwäldern abgelöst wurden.

Mesolithische Jäger-Sammler hinterließen ihre Spuren: In Rüsselsheim entdeckte Pfostenlöcher deuten auf mobile Zeltlager hin, während verkohlte Haselnussreste in Erdgruben von gezielter Vorratshaltung zeugen. Durch kontrolliertes Abbrennen von Unterholz schufen sie Lichtungen, die das Wachstum nahrhafter Gräser sowie Haselnuss- und Beerensträucher förderten. Zahnstein- und Isotopenanalysen an Zähnen aus Friedberg-Bruchenbrücken belegen, dass ihre Ernährung dort vorwiegend aus Fisch (vor allem Hecht) und aus Haselnüssen bestand.

Neolithikum: Die Geburt der Kulturlandschaft

Ab 5.500 v. Chr. revolutionierten linienbandkeramische Siedler das Ökosystem. Ihre 50 Meter messenden Langhäuser – wie in Weckesheim ausgegraben – waren multifunktionale Zentren: Hier lagerten sie Emmer in lehmverkleideten Erdsilos, während Rinder in angrenzenden Ställen gehalten wurden. Doch trotz Ackerbau blieb die Wildtierjagd zentral: Knochenfunde zeigen, dass Rothirsche noch 25 % der Fleischversorgung stellten. Keramikgefäße mit Getreideresten belegen frühe Brauversuche – ein Meilenstein der Lebensmittelkonservierung.

Der Einsatz von Feuersteinsicheln und Ochsenpflügen hatte ungeahnte Folgen: In Auen sedimentierten bis zu 50 cm mächtige Kolluvien aus umgelagertem Löss – die ersten anthropogen verursachten Erosionserscheinungen. Gleichzeitig entstand der Schwarze Auenboden, ein humusreicher Bodentyp, der durch periodische Überflutungen und Laubeintrag geprägt wurde.

Bronzezeit: Metallurgie verändert die Landnutzung

Ab 1.900 v. Chr. ermöglichten bronzene Pflugschare die Urbarmachung toniger Böden. Pollendiagramme aus dem Büdinger Wald dokumentieren einen Waldrückgang auf 30 %, begleitet von einem dramatischen Ulmensterben, möglicherweise durch Laubheugewinnung für Stallstreu.

In Hudewäldern mit Eichen mästeten die Menschen Schweine mit Eicheln – eine Praxis, die bis ins Mittelalter Bestand hatte. Gleichzeitig führte die zunehmende Eisenverhüttung im 8. Jh. v. Chr. zu sauren Böden (pH 4,2–4,8) in Flussauen, die archäobotanisch nachweisbar sind.

Eisenzeitliche Salzgewinnung vor allem in Bad Nauheim revolutionierte die Haltbarmachung durch Pökeln. In Gladbach fand man Gärgruben für milchsauren Kohl – das frühe Sauerkraut

Römische Globalisierung: Steinpflaster und Monokulturen

Die Römer transformierten die Wetterau ab 50 v. Chr. in einen Agrarindustrie-Raum und führten den Weinbau ein. Ihre mehr als 300 villae rusticae bewirtschafteten bis zu 500 Hektar, auf denen sogar Schlafmohn für die Opiumproduktion angebaut wurde.

Der Straßen- und Limesbau erforderte logistische Meisterleistungen: Ein Ochsenpaar transportierte bis zu 1.000 kg schwere Sandsteinblöcke für die Kastelle. Lokale Steinbrücken an der Wetter veränderten auch die Flussdynamik nachhaltig; Uferbefestigungen an der Nidda reduzierten die Überflutungsfläche um 45 %, was zum Verschwinden typischer Auenwiesen führte.

Mittelalter: Klimaoptimum und klösterliche Innovation

Während der mittelalterlichen Warmzeit (900–1250 n. Chr.) stiegen die Temperaturen um 1,5 °C. Die Wetterau wurde zum "Kornspeicher des Reiches" – die Dreifelderwirtschaft mit Roggen erbrachte Erträge von 8–10 dt/ha.

Zisterziensermönche im 1150 gegründeten Kloster Arnsburg perfektionierten das Bierbrauen mit Hopfen, während Apfelwein erstmals um 1600 in Friedberg nachweisbar ist. Die Streuobstwiesen erlebten ihre Blütezeit. Gleichzeitig entstanden durch Waldweide lückige Hudewälder mit alten Eichen, die bis heute als Biodiversitäts-Hotspots gelten.

Industrialisierung: Waldkrise und Kartoffelboom (1.500–1900 n. Chr.)

Bergbau und die Hüttenindustrie ließen den Waldanteil auf 15% schrumpfen. Erst Forstreformen des 19. Jh. förderten Kiefernmonokulturen, die jedoch die Artenvielfalt um 60 % reduzierten. Auch die Industrialisierung ab 1850 führte zu drastischen Veränderungen: Für den Eisenbahnbau wurden 1,2 Millionen Eichenschwellen geschlagen, der Waldanteil sank auf 12 %.

Die Kartoffel revolutionierte ab 1750 die Ernährung, während die Erfindung der Büchsenkonserve 1810 neue Lagerungsmöglichkeiten schuf[. Heute dominiert die Agrarindustrie: Mais und Raps bedeckt bis zu 40 % der Ackerflächen, begleitet von Nitratbelastungen über 50 mg/l im Grundwasser. Gegenmaßnahmen wie der "Weideverbund Wetterau" setzen auf historische Beweidungssysteme – Heckrinder, Rückzüchtungen, die dem Erscheinungsbild des ausgestorbenen Auerochsen nahekommen, grasen wieder in renaturierten Auen.

Wetterau: Ein Mikrokosmos des Anthropozäns

Die Wetterau zeigt exemplarisch, wie menschliche Innovationen natürliche Prozesse überlagern:

• Die Waldbedeckung schwankte zwischen 90 % (Spätglazial) und 12 % (19. Jh.), heute 33 %

• Die Bodenbildung reicht von natürlichem schwarzem Auenboden bis zu anthropogenen Kolluvien (Sedimentablagerungen)

• Das Artensterben betraf 70 % der Megafauna, während Kulturfolger wie der Feldhase profitierten

• Konservierungstechniken entwickelten sich vom Trocknen und Rösten über Fermentierung und Pökeln zur (Tief-)Kühllagerung

Archäobotanische Studien belegen:

Selbst mesolithische Jäger gestalteten aktiv ihre Umwelt. Die Herausforderung liegt heute im Ausgleich zwischen landwirtschaftlicher Produktivität und dem Erbe dieser 12.000-jährigen Ko-Evolution.

Dr. Henning Hachmann, im Mai 2025