Bembel und Gerippte
Foto: Dr. Henning Hachmann
30.05.2025

Apfelwein in der Wetterau: Eine kulturhistorische Liebesgeschichte

Die Wetterau, dieser sanft geschwungene Landstrich nördlich von Frankfurt, ist nicht nur für ihre fruchtbaren Böden bekannt, sondern auch für ein Getränk, das die Herzen der Hessen seit Jahrhunderten höherschlagen lässt: den Apfelwein, liebevoll auch "Stöffche" genannt. Zwischen blühenden Streuobstwiesen im Frühling und schwer tragenden Apfelbäumen im Herbst entwickelte sich hier eine Kulturgeschichte, die so vielschichtig ist wie die Aromen eines gut gereiften Apfelweins.

Vom Römer zum Gerippten: Eine Zeitreise durch die Apfelwein-Historie

Wenn die alten Römer gewusst hätten, welche Lawine sie mit ihren Obstwein-Experimenten lostreten würden, hätten sie vielleicht zweimal nachgedacht. Schon der römische Naturforscher Plinius der Ältere berichtete im 1. Jahrhundert nach Christus von der Herstellung von Wein aus Äpfeln und Birnen in den nördlichen Provinzen des Römischen Reiches. Man könnte sagen, er war der erste Apfelwein-Influencer der Geschichte - leider ohne Instagram, um seine Bembel-Selfies zu teilen.

Während Plinius noch mit Wachstafeln hantierte, machte sich auch der Agrarschriftsteller Palladius im 4. Jahrhundert daran, die Geheimnisse der Obstweinherstellung festzuhalten. Die Germanen, keine Kostverächter, wenn es um vergorene Getränke ging, kannten den Apfelwein vermutlich bereits vor der römischen Besiedlung. Die Römer brachten dann neue Apfelsorten und verfeinerte Verarbeitungstechniken mit - sozusagen das erste technologische Upgrade der Apfelweinproduktion.

Karl der Große: Kaiser und Apfelwein-Lobbyist

Wenn man einen Schirmherrn für den Apfelwein sucht, kommt man an Karl dem Großen nicht vorbei. Um 800 n. Chr. erließ der Kaiser die "capitular de villis", eine Art mittelalterliches Landwirtschaftsgesetz, in dem er erstmals Fachleute für die Obstweinherstellung erwähnte. Karl verordnete nicht nur den Anbau von Apfelbäumen auf Wiesen und Feldern, sondern forderte seine Verwalter ausdrücklich auf, "tüchtige Männer" für die Herstellung berauschender Getränke wie Apfelwein zu beschäftigen. Man könnte sagen, er schuf das erste Ausbildungsprogramm für Keltermeister - ohne Berufsschule und duale Ausbildung, versteht sich.

Vom Wein zum "Baumwein": Die Wetterau wird apfelig

Bis ins 16. Jahrhundert war der Rebensaft das Hauptgetränk im Rhein-Main-Gebiet. Doch dann schlug die "Kleine Eiszeit" zu - eine klimatische Abkühlung, die zusammen mit fiesen Rebkrankheiten den Weinbauern das Leben schwer machte. In ihrer Not stellten viele Landwirte auf Obstbau um, was sich als glückliche Fügung für die Apfelwein-Geschichte erweisen sollte.

In Frankfurt taucht der Apfelwein erstmals um 1515 in einem Rechnungsbuch auf - damals noch vornehm als "Baumwein" bezeichnet. Ein Dortelweiler zahlte fünf Gulden an den Frankfurter Steuererheber - vermutlich die erste dokumentierte Apfelweinsteuer der Geschichte. Der Finanzbeamte dürfte sich gefreut haben, der Steuerzahler weniger.

Reinheitsgebot avant la lettre

Lange bevor die Bayern mit ihrem Bier-Reinheitsgebot angeben konnten, erließ der Rat der Stadt Frankfurt 1638 eine Verordnung zur Reinhaltung des Apfelweins. Die Botschaft war klar: Mit dem Stöffche schummelt man nicht! Im 18. Jahrhundert gewann der Apfelwein weiter an Bedeutung, und 1754 wurde in Frankfurt die erste offizielle Schankerlaubnis für Apfelwein erteilt. Wer eine solche Lizenz besaß, kennzeichnete seine Wirtschaft mit einem Fichtenkranz und einem Apfel - der erste Vorläufer des modernen Gastro-Marketings und ein Brauch, der in abgewandelter Form bis heute besteht.

Die Wetterau: Apfel-Eldorado und Wiege des Stöffche

Die Wetterau entwickelte sich dank ihres fruchtbaren Bodens und günstigen Klimas zur Apfelkammer Deutschlands. Streuobstwiesen prägten das Landschaftsbild und lieferten die Grundlage für den regionalen Apfelwein, der bald zum identitätsstiftenden Getränk wurde.

Als im 19. Jahrhundert die böse Reblaus die europäischen Weinberge heimsuchte und in den 1860er Jahren viele Reben zerstörte, schlug die große Stunde des Apfelweins. Was zunächst als "Arme-Leute-Getränk" galt, wurde bald zum kulinarischen Stolz der Region. In den besten Zeiten wurden in Frankfurt und Umgebung jährlich rund 30 Millionen Liter Apfelwein hergestellt - dafür wurden etwa 40.000 Tonnen Äpfel in die Kelter geschickt. Das sind mehr Äpfel, als Adam und Eva je hätten essen können!

Technischer Fortschritt: Vom Handwerk zur Industrie

Mit der industriellen Revolution hielt der technische Fortschritt auch in den Keltereien Einzug. Hydraulische Pressen und bessere Lagertechniken verbesserten die Qualität des Apfelweins erheblich. Während man früher die Äpfel mit schweißtreibender Handarbeit pressen musste, übernahmen nun Maschinen diese Arbeit - zur Freude der Keltermeister und ihrer Rücken.

Bereits 1820 wurde in Hirschberg/Schlesien der erste Apfelschaumwein produziert - sozusagen der Champagner für den kleinen Mann. Um 1914 wurde der Apfelwein "Perle der Wetterau" auf einer Gewerbeausstellung in Gießen ausgezeichnet - ein früher Beweis für die Qualität der regionalen Produktion.

Kriegszeiten: Apfelwein wird Mangelware

Während des Ersten Weltkriegs wurde die Apfelweinproduktion zeitweise verboten, da die Äpfel für die Herstellung von Apfelgelee für Lazarette benötigt wurden. Die Soldaten brauchten Vitamine, die Zivilbevölkerung musste auf ihr Stöffche verzichten - ein trauriges Kapitel in der sonst so heiteren Geschichte des Apfelweins. Nach Kriegsende konnte die Produktion glücklicherweise wieder aufgenommen werden, und die Apfelweinkultur erlebte eine neue Blüte.

Bembel, Gerippte und UNESCO: Die lebendige Tradition

Heute ist die Apfelweinkultur in der Wetterau lebendiger denn je. Jedes Jahr im Herbst beginnt die Kelterzeit, in der die Äpfel von den Streuobstwiesen zu Apfelwein, Apfelsaft und modernen Varianten wie Apfel-Secco verarbeitet werden. Die charakteristischen "Bembel" (bauchige Tonkrüge) und "Gerippten" (Gläser mit Rautenmuster) sind aus den Gasthäusern der Region nicht wegzudenken - Traditionen, die seit dem 18. Jahrhundert belegt sind.

Die Bedeutung des Apfelweins für die regionale Identität wurde 2022 durch die Aufnahme der hessischen Apfelweinkultur in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO unterstrichen. Damit steht der Apfelwein auf einer Stufe mit dem Tango und der chinesischen Kalligraphie - nicht schlecht für ein Getränk, das einst als simpel und bäuerlich galt!

Herausforderungen und Zukunft: Bewahren und Erneuern

Trotz ihrer langen Tradition stehen die Streuobstwiesen und die Apfelweinkultur heute vor Herausforderungen wie Flächenverlust, Überalterung der Bäume und wirtschaftlichem Druck. Lokale Initiativen, Direktvermarkter und Keltereien setzen sich für den Erhalt dieser Kulturlandschaft und die Pflege alter Apfelsorten ein. Denn der Apfelwein aus der Wetterau ist weit mehr als ein Getränk - er ist ein Symbol für Heimat, Gemeinschaft und die Verbundenheit mit der Natur.

Fazit: Mehr als nur ein Getränk

Die Geschichte des Apfelweins in der Wetterau ist wie ein guter Schoppen: vielschichtig, charaktervoll und mit einem langen Nachklang. Von den ersten römischen Experimenten über Karls des Großen frühe Förderprogramme bis zur UNESCO-Auszeichnung spannt sich der Bogen einer Kultur, die fest im Alltag und im Selbstverständnis der Menschen verwurzelt ist. Der Apfelwein hat Kriege, Klimaveränderungen und gesellschaftliche Umbrüche überstanden und bleibt doch immer sich selbst treu - ein Stück flüssige Heimat im Gerippten, das die Menschen der Wetterau seit Jahrhunderten verbindet.

Und wenn Sie das nächste Mal durch die Wetterau spazieren und die Apfelbäume in voller Blüte oder mit reifen Früchten sehen, denken Sie daran: Hier schauen Sie nicht nur auf Bäume, sondern auf lebendige Geschichte, kulturelles Erbe und - mit etwas Glück - Ihren nächsten Schoppen Apfelwein.

Literatur

Peter Heckert: "Apfelwein", Literatur- und Materialsammlung (2018),
www.peterheckert.de/apfelwein/

Deutsches Apfelweinmuseum in Frankfurt: "Karl der Große und der Apfelwein",
www.deutsches-apfelweinmuseum.de/

Dr. Henning Hachmann, im Mai 2025